Šakir Pašov und die Nationalbewegung der Roma in Bulgarien. Teil 1

Šakir Pašov und die Nationalbewegung der Roma in Bulgarien. Teil 1

Šakir Pašov (1898-1981), heute weitgehend in Vergessenheit geraten, war eine der zentralen Figuren der Roma-Bewegung in Bulgarien. Er gründete mehrere Roma-Organisationen, eine Zeitung und das Theater Roma. Sein langjähriges politisches Engagement für den Kommunismus und die Rechte der Roma führte zu Verfolgung und Verhaftung. Nachdem die Kommunisten 1944 an die Macht gekommen waren, wurde er 1947 als erster Rom ins bulgarische Parlament gewählt. Wenige Jahre später wurde er diffamiert und ins Arbeitslager gesteckt. Die Anschuldigungen, die zu seiner Verurteilung führten, haben sich später als Lügen durch Neider aus der eigenen Community entpuppt. Dieser zweiteilige Artikel basiert auf einem neu erschienenen Buch, dessen Herzstück ein bisher unveröffentlichtes Manuskript von Šakir Pašov aus dem Jahre 1957 ist: History of the Gypsies in Bulgaria and Europe: Roma.

Šakir Mahmudov Pašov wurde am 20. Oktober 1898 in einer Mahala der bulgarischen Hauptstadt Sofia geboren. Seine Eltern waren Eda und Mahmud. Obwohl es damals für Roma-Kinder nicht üblich war, wollte der neunjährige Šakir unbedingt zur Schule gehen. Nachdem er das 8. Schuljahr abgeschlossen hatte, sollte er eigentlich bei seinem Vater in die Werkstatt eintreten und heiraten. Er woltle jedoch weiterlernen und besuchte die Technische Eisenbahnschule. Nach dem Abschluss heiratete er Sabria und wurde zum Militär eingezogen. Er wurde an die Front nach Mazedonien geschickt und politisierte sich noch während des Krieges. Dort soll er auch beschlossen haben, wenn er lebendig und heil aus dem Krieg zurückkehrte, die Geschichte der Roma, wie sie über Generationen überliefert wurde, aufzuschreiben. Das vorliegende Manuskript ist die Erfüllung dieses Versprechens. Es ist kein wissenschaftliches Werk. Er übernahm zwar einiges, das den wissenschaftlichen Werken seiner Zeit entnommen ist, das mischt sich jedoch mit Überliefertem und Autobiographischem.

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Pašov entstammte einer Familie von Schmieden. Die Schmiede aus der Roma-Community haben in Bulgarien eine lange Tradition und er schildert ihre Bedeutung für die bulgarische Ökonomie. Detailliert geht er auf die Agupti (heute bekannt als Balkan-Ägypter) ein, die in den Rhodopen leben und deren Legende besagt, dass sie aus Ägypten stammen. Er vermutet, dass die Agupti von den Römern als Sklaven dorthin gebracht worden sind. Eine andere Theorie besagt, sie seien als Soldaten von den Pharaonen dort angesiedelt worden, um die Grenze zu bewachen. Pašov hält diese Theorie jedoch für unwahrscheinlich, da Roma niemals Soldaten gewesen seien, sondern ein friedliches und kreatives Leben vorzögen. Die Roma hätten nie angestrebt, andere Länder zu erobern. „Sobald sie sich in einem Land niederließen, widmeten sie sich einer friedlichen und kreativen Arbeit, ohne große Ansprüche, nur mit dem Wunsch, für sich und ihre Familien ein Auskommen zu finden.“

Dabei hält er es für möglich, dass erste Roma bereits vor 7000 Jahren Indien verließen, denn es sei bekannt, dass Roma 5000 Jahre vor Christus in Persien und Ägypten auftauchten (von wo sie dann irgendwann Richtung Europa und Russland gingen). Die Ursachen für die Emigration aus Indien über die Jahrhunderte sind verschiedene: Fluten und Dürren mit folgenden Hungersnöten, Verschleppung und Versklavung durch Dschingis Khan, Epidemien. Pašov bestreitet, dass die Roma durch die Türken nach Europa kamen. Da es Aufzeichnungen aus Byzanz gebe, die zeigen, dass es bereits im 7. Jahrhundert Roma in Konstantinopel gab, vermutet er, dass sie von dort nach Norden, also auf die südliche Balkanhalbinsel bzw. nach Bulgarien zogen, und damit bereits vor der Expansion des Osmanischen Reiches dort gesiedelt hätten.

Das Auskommen der Agupti war mehr schlecht als recht: Pašov beschreibt, dass sie auf einem äußerst schlechten ökonomischen und kulturellen Niveau lebten. Dies steht in besonderem Kontrast zu ihrer Schmiedekunst, die von enormer Bedeutung für Bulgarien war. Nicht nur die Agupti, sondern auch die anderen Schmiede, haben ganz Bulgarien mit Handwerks- und Landwirtschaftsprodukten versorgt, darunter Äxte, Nägel, Pflugscharen und Hufeisen und zahlreiches weiteres Basismaterial für verschiedene Berufsgruppen, womit sie deren Handwerk sowie die Landwirtschaft voran gebracht hätten.

Von den Roma entlang der Donau schreibt er, dass zwar manche auch Schmiede gewesen seien, jedoch die meisten in der Landwirtschaft (Frauen) oder als Gepäckträger und Schuhputzer (Männer) gearbeitet hätten. In der kommunistischen Zeit sind die meisten in die Agrargenossenschaften gewechselt und das Interesse an Bildung habe zugenommen. Viele haben einen Schulabschluss gemacht und seien in Behörden und Genossenschaften eingetreten, wo sie sich als gute Arbeiter erwiesen haben.

Weitere bedeutende traditionelle Berufsgruppen unter den Roma waren Pferdehändler (džambazi), Textilarbeiter:innen, Minenarbeiter und Musiker:innen.

Während der kommunistischen Ära haben die Roma-Familien Wertstoffe gesammelt, die so wiederverwertet werden konnten, statt dass sie teuer aus dem Ausland hätten importiert werden müssen. Auch mit dem Sammeln von Kräutern für den Export lieferten die Roma-Familien einen wichtigen Beitrag für die nationale Ökonomie. Er lobt sowohl die charakterbildenden positiven Effekte dieser sozial nützlichen Arbeit, insbesondere auf junge Leute, als auch den Schutz vor Ausbeutung durch die Volksregierung.

Anfang des 20. Jahrhunderts gingen die Roma in Bulgarien noch davon aus, dass ihre Herkunft in Ägypten lag. Dementsprechend nannten Pašov und die weiteren Mitgründer die Gesellschaft, die sie 1919 in Sofia gründeten, Egipet (Ägypten). Ihr Ziel war es, „das politische und staatsbürgerliche Erwachen“ der Roma zu fördern. Der Verein umfasste etwa 50 Mitglieder und organisierte Vorträge, Gespräche, Exkursionen usw. Nur wenige Monate nach ihrer Gründung beschloss die Gesellschaft, sich in die Kommunistische Partei einzugliedern.

Pašov gehörte seit dieser Zeit der KP an. Was ihn zum Kommunismus brachte, so einer seiner Wegbegleiter, war einerseits die Unterdrückung durch die kapitalistische Ausbeutung, die er als Arbeiter spürte, und andererseits hatte er Sorge um die Roma, da sie zur Ausbeutung und Diskriminierung verdammt waren. Deshalb widmete Pašov sein ganzes Leben der Idee, die Roma in Sofia mit den Kämpfen und Idealen der Arbeiterklasse zu vereinen.

Am 2. August 1919 wurde eine neue Roma-Organisation in Sofia gegründet, die Gemeinsame muslimische Organisation für Bildung, Kultur und gegenseitige Hilfe Istikbal (Zukunft). Jusein Mehmedov wurde zu ihrem Präsidenten und Pašov zum Sekretär gewählt. Auch wenn die Organisation sich primär auf die muslimischen Roma bezog, konnten alle Roma Mitglied werden. Dennoch war die Organisierung der muslimischen Roma ein wichtiger Punkt, denn sie konnten nicht in andere muslimische Gremien gewählt werden (dazu führten sie 1930 einen Gerichtsprozess, den sie verloren). Vor allem ging es Istikbal aber um die Förderung der bürgerlichen Emanzipation der Roma.

Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete Pašov als Zugführer bei der Eisenbahn und beteiligte sich an den Streiks der Eisenbahner. Nachdem die Streiks gescheitert waren und er gekündigt hatte oder wurde (dazu gibt es verschiedene Angaben), arbeitete er wieder für seinen Vater in dessen Schmiede. 1920 beteiligte er sich an Streiks der Arbeitslosen, die Unterkünfte für Obdachlose forderten. Viele Roma beteiligten sich an diesen Kämpfen. Der Protest wurde gewaltsam niedergeschlagen und Pašov und seine Freunde von der Polizei gesucht, weil sie es waren, die unter den Roma mobilisiert hatten.

Pašov gehörte einem 1921 gegründeten Komitee an, das die politischen und bürgerlichen Rechte der Roma sichern sollte, darunter das Wahlrecht, das den muslimischen und „nicht sesshaften“ (nicht registrierten) Roma 1901 entzogen worden war. Das bedeutet, dass die meisten bulgarischen Roma kein Wahlrecht mehr hatten, das allen Bürgern des Landes in der Verfassung von 1879 garantiert worden war. Die Aberkennung dieses bürgerlichen Rechts politisierte viele Roma in Bulgarien. Sie organisierten 1901 eine Konferenz in Vidin, führten eine Kampagne durch und starteten eine Petition. Da die Petition erfolglos blieb, erfolgte der nächste Kongress am 19. Dezember 1905. Auch dessen Bemühungen blieben erfolglos.

Das 1921 gegründete Komitee sandte eine Delegation, der Pašov angehörte, zu Premierminister Aleksandar Stambolijski, um mit ihm über die Wiederherstellung des Wahlrechts der Roma zu sprechen. Mit der Unterstützung der kommunistischen Abgeordneten wurde 1923 ein Gesetz verabschiedet, dem zufolge die muslimischen Roma wieder wählen durfte. Die „nomadischen“ Roma blieben jedoch weiterhin vom Wahlrecht ausgeschlossen. (Frauen hatten auch nach wie vor noch kein Wahlrecht, das sie in Gänze erst nach der Machtübernahme der Kommunist:innen 1944 erlangten.)

1922 wurde Pašov zum Delegierten des Vierten Kongresses der Kommunistischen Partei gewählt, der in Sofia stattfand. Zahlreiche Gäste aus dem Ausland nahmen daran teil, darunter Clara Zetkin als Vertreterin der Internationalen Kommunistischen Bewegung.

Am 16. April 1925 wurde ein Bombenanschlag auf die Kathedrale Sveta Nedelja in Sofia verübt, bei dem mehr als 100 Menschen getötet wurden. Die Kommunist:innen wollten mit dem Anschlag der herrschenden Elite Bulgariens einen schweren Schlag versetzen. Es folgte eine brutale Repression gegen kommunistische und andere Aktivist:innen mit Hunderten Toten. Pašov wurde verhaftet, gefoltert und inhaftiert. Nach drei Monaten wurde er freigelassen, blieb aber weiterhin im Visier der Polizei. Eines Tages wurde er gewarnt, dass die Polizei nach ihm suche, und er floh in die Türkei, wo seine Schwester lebte. Nach seiner Rückkehr 1929 trat er der Bulgarischen Arbeiterpartei bei, die zwei Jahre zuvor als Ersatz für die 1924 verbotene Kommunistische Partei gegründet worden war.

Nach seiner Rückkehr 1929 übernahm er wieder seine Arbeit bei Istikbal. Die Organisation sollte mitunter die Arbeit der alten Community-Organisationen (londži) übernehmen, die aus den Berufsgilden der Roma hervorgegangen waren, jedoch nicht nur Berufs-Interessen vertraten. Istikbal umfasste zum Beispiel auch Wohltätigkeitsarbeit und Unterstützung der Mitglieder in Notlagen. Im nächsten Jahr vereinigten sich Istikbal und eine weitere große Roma-Organisation unter dem Namen Istikbal, und Pašov wurde ihr Präsident.

Istikbal wurde zu einer offiziellen Institution, die die Roma-Community gegenüber den Behörden vertrat, die Geburts- und Sterberegister der Community unterhielt und den Behörden die Namen von Not leidenden Familien mitteilte, damit sie Unterstützung erhielten. Wenn es in Familien zu ernsthaften Auseinandersetzungen kam, hatte die Vereinigung einen eigenen Schlichtungsrat, der konsultiert werden konnte.

1931 gründete er die Zeitung Terbie (Erziehung) der Organisation, die in bulgarischer Sprache geschrieben und landesweit gelesen wurde. Wichtigstes Ziel von Organisation und Zeitung war die Aufklärung der Roma in Bulgarien durch Kultur und Bildung, so Pašov. Laut anderen Quellen ging es in der Zeitung auch um den Kampf der Roma-Community um die Beteiligung an der Verwaltung der muslimischen Religionsgemeinschaft (und ihres Eigentums). Wichtig war die Darstellung der Roma als Nation und die Förderung der bürgerlichen Emanzipation bzw. Nationalbewegung der Roma. Gleichzeitig, so Pašov, lehnte die Zeitung jeden Chauvinismus ab und trat für die „Liebe zwischen den Menschen und die Verständigung zwischen den Nationen“ ein. Er bezeichnet Terbie als „Musterbeispiel für ein wahrhaft fortschrittliches demokratisches Organ, dessen Aufgabe es war, Liebe und nicht Zwietracht unter den Menschen zu verbreiten.“

Am 7. Mai 1932 fand am Bahnhof Mezdra die erste Roma-Konferenz statt, die von der Roma-Organisation in Vratsa initiiert wurde. Šakir Pašov brachte eine Delegation aus Sofia dorthin. Bei dieser Konferenz wurde laut seinem Manuskript beschlossen, dass alle Roma in Bulgarien von der Organisation Istikbal geführt werden sollten. Pašov hat anscheinend häufig unerwähnt gelassen, dass er 1931 eine weitere Organisation gegründet hat, die entweder „Nationale Organisation für Bildung und Kultur der Mohammedaner“ oder „Gemeinsame nationale mohammedanische Kultur- und Bildungsunion“ hieß und eine zentrale Rolle für die Aktivitäten der Roma in dieser Zeit spielte. Zwei Jahre später wurde diese Organisation unter dem Titel „Gemeinsame nationale Vereinigung für Kultur und Bildung und gegenseitige Hilfe der mohammedanischen Roma in Bulgarien“ umstrukturiert. Auch wenn der Titel anderes suggeriert, konnten alle Roma Mitglied werden, nicht nur muslimische. Vermutlich sollte sie als Dachverband der Roma-Organisationen in Bulgarien fungieren, stand aber auch Roma aus anderen Ländern offen. Den Sankt-Georgs-Tag/ Hederlezi (6 Mai) haben sie zu ihrem Feiertag erklärt.

Pašov schreibt, Istikbal sei im Juni 1934 (nach dem Militärputsch in Bulgarien) durch einen schriftlichen Beschluss aufgelöst worden; ihre Zeitung Terbie, sei eingestellt worden. Ob das stimmt, wird von den Herausgeber:innen seines Manuskripts bezweifelt. Fakt ist allerdings, dass die Registrierung der 1931 gegründeten Organisation von den Behörden abgelehnt wurde.

In den 1930er Jahren intervenierte Istikbal mehrfach, da in der Presse Gerüchte verbreitet wurden, in den Roma-Mahalas in Sofia würden sich Seuchen verbreiten. In einem Fall verfasste die Organisation eine Stellungnahme, in der sie klarstellt, dass dem nicht so sei. Stattdessen käme die Stadt ihrer Verpflichtung nicht nach, den Müll abzuholen (obwohl sie die Gebühren dafür einsammele) und würde damit erst die unhygienischen Zustände hervorrufen, die den Roma vorgeworfen werde, die „auf die kriminelle Nachlässigkeit der städtischen Beamten zurückzuführen ist, die für die öffentliche Hygiene in unserem Viertel verantwortlich sind, die ihre Pflicht nur etwa eine Woche vor einer Wahl erfüllen, aus Demagogie und geleitet von ihrem Appetit auf etwa tausend Wählerstimmen in unserer Nachbarschaft.“

Dass ganze Mahalas unter Quarantäne gestellt werden, kennen Roma nicht erst seit der Corona-Pandemie. Im März 1938 verbreitete die Presse das Gerücht, in einem Roma-Viertel in Sofia würde sich Typhus ausbreiten. Daraufhin wurde die Mahala abgeriegelt. Ein von Istikbal initiiertes Komitee intervenierte bei den Behörden. Anscheinend gab es bereits seit längerem Beschwerden der bulgarischen Bevölkerung aus der Nachbarschaft, die verlangten, die Roma zu vertreiben, umzusiedeln und zu isolieren, „wo sie genauso leben können wie ihre Landsleute und weiter von uns weg sind“. Der Hintergrund dieser Kampagne war, die Roma aus den innerstädtischen Vierteln zu vertreiben und in eine neue Mahala (Fakulteta) am Stadtrand umzusiedeln und ihre Grundstücke für wenig Geld zu kaufen. All das sind auch heute noch beliebte Strategien gegen Roma.

Pašov lebte zu dieser Zeit mit seiner Familie in der größten Roma-Mahala in Sofia und verdiente seinen Lebensunterhalt durch seine kleine Eisenwerkstatt, nachdem er 1935 aus der kommunalen technischen Werkstatt entlassen worden war, weil er sich an einem Streik der Arbeiterpartei beteiligt hatte.

Fortsetzung folgt…

Quelle: Elena Marushiakova, Vesselin Popov, Lilyana Kovacheva (Hg.): Shakir M. Pashov, History of the Gypsies in Bulgaria and Europe: Roma, Paderborn 2023, online unter: https://brill.com/downloadpdf/title/63617.pdf.