Porajmos und Widerstand in Ungarn. Teil 1: Die Verfolgung und Ermordung der ungarischen Roma

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Cover des Buches Pharrajimos von János Bársony und Ágnes Daróczi, in dem sie zahlreiche Interviews mit Überlebenden publiziert haben und mehr als 500 Orte der Verfolgung nennen.

Porajmos und Widerstand in Ungarn. Teil 1: Die Verfolgung und Ermordung der ungarischen Roma

Die Verfolgung und Ermordung der ungarischen Roma im Zweiten Weltkrieg ist ein bis heute kaum bekanntest Kapitel der Geschichte. In diesem ersten Artikel beschäftigen wir uns mit der Verfolgung, Verschleppung und Ermordung der ungarischen Roma, dem Pharrajimos. Im folgenden zweiten Teil wird es um den Widerstand dagegen gehen.

Die Entwertung der Roma in Ungarn begann nicht erst mit dem Zweiten Weltkrieg oder der deutschen Besatzung. Auch in Ungarn wurden Anfang des 20. Jahrhunderts rassistische Theorien von damaligen Wissenschaftlern vertreten, nach denen Roma eine „degenerierte“ oder „minderwertige Rasse“ seien. Gleichermaßen existierten rassistische Stereotype, die Roma als gefährlich, kriminell und als Überträger:innen von Krankheiten imaginierten.

Ein besonders grausamer Fall ereignete sich kurz nach der Jahrhundertwende, der dazu führte, dass viele Kalderasch-Roma aus Ungarn flohen. Nach dem Überfall auf ein Wirtshaus und dem Mord an dessen Wirt wurden Roma beschuldigt, diese Taten begangen zu haben. Daraufhin internierte die Gendarmerie monatelang unzählige Roma in einem Konzentrationslager, wo sie hungerten, gefoltert und misshandelt wurden. Manche trugen bleibende Schäden von der Folter davon oder starben daran. Die Überlebenden flohen 1907 aus dem Land. Der Fall hat einen rassistischen Diskurs in Ungarn ausgelöst, in dem Roma dehumanisiert und kriminalisiert wurden und in dem eine Lösung der Z-Frage gefordert wurde.

Auch auf politischer bzw. gesetzlicher Ebene wurden Roma verfolgt. So gab es 1916 ein Dekret, das es „fahrenden“ Roma untersagte, ihren offiziellen Wohnort zu verlassen. Sie wurden registriert. Die „widerspenstigen“ sollten in staatliche Arbeitslager gesteckt werden.

Roma mussten im Ersten Weltkrieg für Österreich-Ungarn kämpfen. Laut Janós Bársony waren Roma in der Armee sogar überrepräsentiert, da arme Leute generell überrepräsentiert waren und sich vom Dienst kaum freikaufen konnten. Sie dienten als Kanonenfutter.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurden auf lokaler wie nationaler Ebene immer wieder Maßnahmen gegen Roma beschlossen. Dazu gehörten Regulierungen, wo Roma leben, arbeiten oder sich aufhalten durften, die Gendarmerie durfte willkürlich Roma durchsuchen, mancherorts tauchte die Gendarmerie zweimal jährlich in den Communities auf und schlug alle zusammen. Lange Zeit richteten sich viele Maßnahmen vor allem gegen Roma, die nicht sesshaft waren oder die man sich als nicht-sesshaft vorstellte. Es gab immer wieder Vorschläge für Gesetze und Regelungen, die sich rassistischer Stereotype bedienten, die mit Hygiene, Übertragung von Krankheiten und Kriminalität zusammenhingen.

Ab 1929 wurden jährlich zwei landesweite Razzien gegen Roma durchgeführt, die auf einer Regelung aus dem Jahr davor basierten und sich im Kriegsverlauf drastisch ausweiteten. In den 1930er Jahren wurden dann auch, inspiriert durch Nazi-Deutschland, entsprechende rassistische Diskurse gegen Roma übernommen. Ab 1934 wurden Roma kollektiv als „unzuverlässig“ deklariert und 1938 gab es einen Erlass, der das Personal in der Strafverfolgung instruierte, alle Roma als „verdächtig“ zu behandeln, was als Grundlage für die weitere Verfolgung diente. Seit 1939 wurden ungarische Roma, die in Österreich lebten, in Lager und Ghettos gesperrt und später nach Auschwitz deportiert. 1939 wurden die ersten Roma der Zwangsarbeit unterworfen. Im Herbst 1942 wurden 5000 Roma im Vernichtungslager Kulmhof durch den Einsatz von Gaswagen ermordet. Die meisten der Ermordeten waren ungarisch-sprachige Roma aus dem Burgenland (Österreich). Im März 1943 begann die Deportation der burgenländischen Roma nach Auschwitz.

In den 1940er Jahren lebten Roma in Ungarn als schlecht bezahlte Arbeiter:innen in der Landwirtschaft oder von ihren traditionellen Handwerken, andere waren Musiker:innen oder Händler:innen. Viele mussten in mehreren Bereichen arbeiten, um zu überleben. Jedoch gab es auch Roma, denen es ökonomisch relativ gut ging oder die beliebte Künstler:innen waren.

Seit 1941 war Ungarn unter Miklós Horthy mit Deutschland verbündet. Die Region Transkarpatien in der heutigen Ukraine war damals von Ungarn besetzt, und die Roma der Region wurden als „unzuverlässig und undokumentiert“ erklärt. Roma und Juden, die ihre ungarische Staatsbürgerschaft nicht durch die richtigen Dokumente nachweisen konnten, wurden 1941 in deutsches Besatzungsgebiet (Ukraine und Jugoslawien) getrieben, wo die meisten ermordet oder in Konzentrationslager deportiert wurden.

Nachdem Ungarn an der Seite der Achsenmächte in den Krieg eingetreten war, wurden Roma auch in die Armee eingezogen, um sie an der Front zu verheizen. Gleichzeitig gab es ab 1942 in vielen Orten geschlossene Lager für Roma, die nur für die Arbeit/ Zwangsarbeit verlassen werden durften. Auch die Zwangsarbeit wurde unter bewaffneter Bewachung geleistet.

Die Hochphase der Verfolgung von Roma fand 1944 bis 1945 statt. Die erste Intensivierung erfolgte, als die Deutschen im März 1944 Ungarn besetzten. Im Oktober wurde Horthy von den Pfeilkreuzlern abgesetzt, einer faschistischen Partei unter der Führung von Ferenc Szálasi, die eine Marionettenregierung der Deutschen bildeten. Das Szálasi-Regime intensivierte die Verfolgung noch einmal erheblich, viele Roma wurden in die deutschen Konzentrationslager verschleppt. Am 23. Februar 1945 erklärte Innenminister (Pfeilkreuzler) Gábor Vajna: „Ich habe mit der totalen, und wenn es sein muss, drakonischen Lösung der Juden- und Z-Fragen begonnen.

Die Verfolgung fand durch Razzien statt, Roma wurden in Ghettos gesperrt, zur Zwangsarbeit verschleppt und fielen Massenerschießungen und Vergeltungsmaßnahmen zum Opfer. Aus ungarischen Sammel- und Arbeitslagern wurden Roma in die deutschen Vernichtungslager deportiert. Besonders berüchtigt war der Ort Komárom, wohin Roma verschleppt und unter Bedingungen interniert wurden, die viele nicht überlebt haben. Von dort aus wurden viele weiter in die Konzentrationslager Auschwitz, Dachau, Mauthausen, Buchenwald, Ravensbrück, Bergen-Belsen, Theresienstadt u.a. deportiert, von wo viele nicht mehr zurückkamen. Vor allem in Ravensbrück und Auschwitz-Birkenau wurden Romnja sterilisiert. An vielen wurde medizinische Experimente vollzogen. Die Überlebenden trugen häufig bleibende Schäden davon. Wieviele ungarische Roma dem Holocaust zum Opfer fielen, ist bis heute nicht bekannt. Vorsichtige Schätzungen gehen von 5.000 Todesopfern aus, andere von bis zu 60.000.

Dass es nicht noch mehr Todesopfer gab, liegt sicherlich mit daran, dass die schlimmste Phase der Verfolgung erst nach der Besetzung Ungarns durch die Wehrmacht begann und die Rote Armee Ungarn im September 1944 erreichte. Es kam zu langwierigen Kämpfen und immer wieder zu Befreiungen einzelner Orte – manch ein Ort musste gar mehrfach befreit werden – und damit auch die inhaftierten oder für die Deportation vorgesehenen Roma.

In manchen Regionen wurden ab 1944 Zwangsarbeitslager errichtet, die von der Gendarmerie bewacht wurden. Roma mussten jedoch nicht erst seit 1944 Zwangsarbeit leisten, sondern auch schon in den Jahren davor. Männer wurden häufig gezwungen an der militärischen Befestigung zu arbeiten (auch unter Beschuss) oder Minen zu räumen. Frauen und ältere Männer mussten häufig in der Landwirtschaft arbeiten. Die Situation in den Ghettos, in die Roma in vielen Regionen vor allem ab Frühjahr 1944 gesperrt wurden, war geprägt von Hunger und Gewalt. Wer floh und erwischt wurde, wurde nicht selten vor den anderen zu Tode geprügelt. Neugeborene verschwanden. Das Eigentum und das Vieh der Roma ebenfalls.

Mária Algács, verheiratet Frau Miklós Murzsa, war 14 Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter und ihren jüngeren Geschwistern und 200-300 anderen Roma in das jüdische Ghetto in Újfehértó gesperrt wurde. Ihr Vater wurde, wie die anderen Männer, zur Zwangsarbeit verschleppt und kam nicht wieder. Die Roma wurden in das Ghetto gesperrt, nachdem die Juden deportiert und ihre Wohnungen geplündert worden waren. Sie hungerten ständig, wurden gedemütigt und geprügelt, die Mädchen vergewaltigt. Mária bekam ein Kind im Ghetto, das ihr sofort weggenommen wurde. Sie hat ihr Kind nie wieder gesehen.

Insbesondere ab Juni 1944 wurden viele Roma in deutsche Arbeits- und Vernichtungslager deportiert. Vorher waren sie häufig in Ungarn interniert, insbesondere in der Festung Csillagerőd in Komárom, dem größten Internierungslager in Ungarn, das von 1944 bis 1945 existierte. Seit September 1944 war dort eine Einheit der SS stationiert. Auch an anderen Orten wurden 1944 Sammel- und Arbeitslager für Roma errichtet. Im Herbst 1944 fand eine Serie landesweiter Razzien statt.

Die Bedingungen, unter denen Roma in Komárom interniert waren, waren fürchterlich. Sie wurden in unterirdischen Bunkern untergebracht, jedoch waren diese bald voll, und die Menschen mussten draußen schlafen. Der Winter kam. Kinder und Erwachsene erfroren. Zu essen gab es kaum. Die Menschen mussten mit ihren Händen aus rostigen Dosen essen. Die Überlebende Ilona Raffael:

„Du musstest dich anstellen. Wenn du sechs Kinder hattest, gaben sie dir einen Liter Wasser – du kannst es nicht Essen nennen – und wenn du gesagt hast, das ist nicht genug, weil wir viele sind, würden die Soldaten dich sogar schlagen. Meine Mutter wurde dafür verprügelt.“

Es gab keinen Ort, um sich zu waschen, Wasser wurde von verseuchten Brunnen geholt. Da es keine Latrinen gab, häuften sich die Exkremente in den Bunkern. Krankheiten und Läuse breiteten sich aus. Die Menschen wurden misshandelt und vergewaltigt. Schwangere Frauen starben mit ihren Kindern bei der Geburt. In den Berichten der Überlebenden wird häufig erwähnt, dass besonders die Kinder in Scharen starben.

Eine Überlebende, Frau József Székely (bei Barsóny/ Daróczi werden viele Frauen nur nach ihren Männern genannt), erinnert sich:

„Die Pfeilkreuz-Männer schlugen und traten uns ständig – auch die Kinder. Wenn sie Essen holten, wurden sie mit Knüppeln verprügelt. Manche hatten gebrochene Arme, andere beide Beine, so schlimm wurden sie geschlagen. Wir mussten zwischen Würmern, im Dreck und in Wasserlachen schlafen. Die Kinder starben eins nach dem anderen; diejenigen, die noch  Säuglinge waren, kamen alle um. Auch viele alte Leute starben, verhungerten. Die Pfeilkreuzler warfen ihre Leichen einfach mit Heugabeln auf Karren und brachten sie irgendwohin… Wir wurden deportiert… Der nächste Halt für die Roma war Dachau.“

Komárom entwickelte sich zu einem Ort, an dem die Deutschen „Arbeitsfähige“ selektierten, um sie in deutschen Konzentrationslagern der Zwangsarbeit zu unterwerfen, da Deutschland dringend Arbeiter:innen brauchte. Im Herbst begannen die Massendeportationen in deutsche Konzentrationslager.

Mariska (Frau Vilmos Holdosi) wurde als 14jährige zunächst anderthalb Monate in Komárom inhaftiert, bevor sie mit vielen weiteren Roma und Juden nach Dachau deportiert wurde. Als sie dort ankommen, werden den Müttern die Babies weggenommen. Die Menschen müssen ihre Sachen abgeben:

„Es gab einen großen Raum, wo sie alles auf den Boden geworfen haben – es lag soviel Kleidung herum, so viel Schmuck, ich kann es dir gar nicht sagen… Natürlich, da wir arm waren, konnten sie von uns Roma nichts nehmen, wir hatten nur die Kleidung, die wir am Leib trugen.

Die Männer und die Kinder wurden getrennt weggebracht. Wir wussten nicht wohin. Wir Frauen blieben dort. Wir mussten uns ausziehen – kannst du dir das vorstellen – wir gingen nackt ins Lager. Was für eine Schande, vor allem bei uns ist es eine große Schande, weißt du. Sie gaben uns diese gestreifte Kleidung – du weißt, die Art wie sie Clowns tragen – aber sie hatte keine Knöpfe, nur ein Stück Bindeband, und wir mussten sie anziehen. Sie gaben uns winzige Schlappen für unsere Füße. Wie hätte uns nicht kalt sein sollen? Es war nicht schwer, sich in der Kälte, im Schnee, eine Krankheit einzufangen, in diesen dünnen gestreiften Kleidern. Es war ein kalter Winter, die Kälte kroch uns die Knöchel hoch, dennoch mussten wir marschieren, während sie uns schlugen…

Es gab jeden morgen so viele Tote, meine Liebe, die wir zum Brennofen bringen mussten. Es brach unser Herz, diese kleinen jungen jüdischen Frauen zu sehen, 15-16jährige. Sagen wir, wir waren mehr an Entbehrungen gewöhnt als sie. Das schlimmste war, dass wir sie zum Brennofen tragen mussten. Du musstest diese toten Körper nehmen und sie in den Brennofen werfen wie Hunde – das darf nie vergessen werden.“

Mariska hat Dachau mit einem gelähmten Bein überlebt und mit 18 Jahren geheiratet. Obwohl sie im KZ eine Injektion bekam, die sie vermutlich sterilisieren sollte, hat sie acht Kinder bekommen. Eine ihrer Töchter wurde gehörlos geboren, und auch die Tochter hat gehörlose Kinder bekommen. Die Ärzte führen das auf die Injektion zurück.

Der Überlebende Gyula Balogh erinnert sich an die Ankunft im KZ:

„Es war Wasser um das Camp, und es war mit Elektrozaun umzäunt. Sie führten eine Selektion durch. Diejenigen, die sich auf die linke Seite stellen mussten, wurden getötet. Ein SS-Offizier sagte zu uns: ‚Ihr alle seid hierher gekommen, aber es gibt keinen Weg zurück, von hier geht ihr nirgendwo mehr hin…‘ Jede Woche mussten wir uns zur medizinischen Untersuchung nackt aufstellen. Jedesmal quälten sie uns, injizierten uns dieses oder jenes… Oh, dieser Mengele! Die Erde selbst möge ihn ausspucken, seine Leiche ablehnen! Die Welt hat nie eine solche Grausamkeit gesehen!“

Balogh war in mehreren Konzentrationslager, bevor ihm die Flucht gelang. Zu Fuß gelangte er zurück nach Hause.

Die Befreiung brachte nicht immer die Rettung. Über die Schlussphase in Dachau erzählt die überlebende Romni Frau István Sztojka (eigener Name wird nicht genannt):

„Dann brach die Ruhr-Epidemie aus, weil wir die Kartoffelschalen aus dem Hof aufsammelten. Mehr als die Hälfte derjenigen, mit denen ich zusammen ging, sind gestorben. Sie fielen um wie die Fliegen. Jedoch starben auch viele, als die Amerikaner kamen und uns gutes Essen gaben und der Magen und die Eingeweide natürlich ausgetrocknet waren, deswegen starben diese Menschen.

Wir sollten auch nach Auschwitz gebracht werden, aber die Amerikaner kamen rechtzeitig. Die Juden wussten irgendwie über alles Bescheid, und sie haben zu uns gesagt: Macht euch jetzt keine Sorgen, die Amerikaner kommen. An dem Tag, als die Deutschen merkten, dass sie kamen, haben sie unser ganzes Essen vergiftet, um uns alle auf einmal loszuwerden. Aber die Juden verstanden Deutsch und haben allen gesagt, dass sie nichts essen sollten, weil das Essen vergiftet sei.

Die Amerikaner kamen – es war ein Sonntag, ich werde diesen Tag nie vergessen. Sie brachten jede Menge Essen mit. Ich war bei Verstand und habe nichts davon gegessen. Ich habe zuerst Tee getrunken, jede Menge. Darum bin ich nicht gestorben, obwohl ich so schwach war, dass ich nur kriechen konnte, um den Kessel zu erreichen, so geschwächt war ich vom Typhus.“

Der Holocaust wird meistens mit der Vergasung in Vernichtungslagern in Verbindung gebracht. Viele Roma und Juden wurden jedoch Opfer von Massakern in Form von Massenerschießungen. Auch Ungarn ist dabei keine Ausnahme. An verschiedenen Orten wurden Roma zusammengetrieben und von ungarischem oder deutschem Militär oder ungarischen Gendarmen erschossen.

Im Herbst 1944 fand ein Massaker an den Roma in Kötegyán statt. Der Überlebende Károly Komáromi berichtet, dass ungarische Soldaten eine Handgranate in das Haus eines Roma-Ehepaars geworfen haben und die beiden schwer verletzt wurden. Roma wurden zusammengetrieben und eingesperrt. Auf der Gendarmerie wurden sie tagelang misshandelt. Was dort passiert ist, weiß Károly Komáromi von zwei Frauen, die überlebt haben:

„Sie erzählten uns, wie die Gendarmen die Roma verprügelten, die komplett nackt waren, so dass die Wand mit Blut vollgespritzt war…

Im Morgengrauen brachten sie sie zum Friedhof in Doboz und die Gendarmen, die dort bereits warteten, haben sie mit einem Maschinengewehr und Handgranaten in Stücke gesprengt. Wie ich von der Frau des Friedhofswächters erfahren habe, versuchte ein Kind zu entkommen, konnte aber nicht, weil die Gendarmen ihn entdeckten. Als sie fertig mit ihnen waren, gingen sie zu den Roma von Doboz. Sie zwangen sie, Gräber auszuheben und die Leichen hineinzulegen. Manche waren noch nicht tot, aber sie haben sie trotzdem begraben.“

Zu den Ermordeten gehörten auch Károlys Großeltern, sein Vater und seine 14jährige Schwester.

Am 30. November 1944 haben Gendarmen viele Roma in ihren Häusern in Lengyel ermordet. Anfang Oktober 1944 hatten sie Hunderte Roma in Pocsaj zusammengetrieben, aber schon kurz nach Beginn des Mordens flohen die Mörder, da die Rote Armee das Feuer eröffnete. Ende Januar 1945 wurden 230 Roma nach Várpalota gebracht, wo sie ermordet werden sollten. Sie stammten aus Székesfehérvár, einer zwischen deutsch-ungarischem Militär und Roter Armee heiß umkämpften Stadt. Ein Teil von ihnen konnte vorher fliehen. Diejenigen, die nicht fliehen konnten, wurden mit Roma aus Várpalota erschossen. Die Täter waren lokale Gendarmen und Angehörige der Pfeilkreuzler-Miliz.

In späteren Gerichtsprozessen gegen die Täter wurde behauptet, die Exekutionen hätten stattgefunden, da die Roma aus Székesfehérvár geplündert hätten. Jedoch fand der Richter das nicht glaubwürdig, da nicht einmal der Versuch unternommen worden sei, kleine Kinder auszusparen. Das Massaker überlebt haben wahrscheinlich nur zwei junge Romnja: Mici und Falat. Bora, die als Kleinkind Komárom und Auschwitz überlebt hat, erzählt im Interview mit Anna Lujza Szász:

„Eine Frau blieb am Leben. Sie war meine Schwägerin. Genannt „Falat“. Anna ist ihr ungarischer Name. Sie verlor sowohl ihren älteren Bruder als auch dessen Frau. Sie war die einzige Überlebende, stell dir das vor. Die toten Menschen fielen auf sie und sie bekam einen Schuss ins Bein. Das war der Grund, warum sie hinkte. Ihre Roma-Name ist Falat.“

Falat war nicht die einzige Überlebende. Auch Mici Lakatos, eine 25jährige Romni, hat das Massaker überlebt:

„Die Männer waren gezwungen, die Gruben früh am Morgen auszuheben. Sie kehrten nicht zurück, sondern wurden alle erschossen. Als wir dort ankamen, waren sie bereits tot. Dann waren wir an der Reihe. Ich war zu dieser Zeit schwanger. Das Baby wurde im Juli erwartet. Ich bekam acht Schüsse ab: in die Hand, ins Bein, in die Seite und in den Oberschenkel. Acht Schüsse. Ich habe überlebt und ein weiteres kleines Mädchen. Als die Stille ungebrochen war, kamen Soldaten, um sicherzustellen, dass es keine Überlebenden gab. Ich lag in der Grube, ohne mich zu bewegen. Als sie weggingen und die Stille eintrat, schubste ich alle um meinen Körper an, um zu sehen, wer noch am Leben war. Ich berührte das junge Mädchen. Sie stach mich zurück. Ich fragte sie: Wer bist du? Welche bist du? Sie antwortete: Ich bin es. Falat. Ich bat sie um Hilfe, weil ich mich nicht bewegen konnte.“

Nach dem Krieg hat Mici Falat aufgezogen und hat ihr Leben dem Zusammenhalt der Roma-Community an ihrem Ort gewidmet.

Für viele Roma brachte der Vormarsch der Roten Armee die Rettung im letzten Moment. So hatten die ungarischen Gendarmen und Deutschen zu den Roma, die sie aus Kesznyét nach Tiszalúc transportiert hatten, gesagt: „Eure Gräber sind bereits gegraben und wir werden euch da reinschießen.“ Dann begann plötzlich der Beschuss und die Bewacher:innen flohen.

Ende Dezember 1944 näherte sich die Rote Armee Komárom. Die Massendeportationen der Roma aus der Festung Csillagerőd in deutsche Konzentrationslager endeten zu diesem Zeitpunkt. Arbeitsunfähige Frauen und Kinder wurden Richtung Norden geschickt. In einem Ort namens Galánta wurden sie laufen gelassen. Trotz des eisigen Winter, ihres desolatem Zustands und ohne Nahrungsmittel haben manche es nach Hause geschafft, wenn sie denn noch eins hatten. Menschen, die aus den Lagern zurückkehrten, fanden oft nichts mehr vor. Ihr ganzer Besitz, einschließlich der Kornspeicher, war geplündert worden. In Komárom gingen jedoch die Massaker, vor allem an Juden, weiter. Am 24. Januar 1945 fand ein Massenmord auf der Brücke von Komárom an unbekannten Opfern statt.

Mehrere Überlebende berichten, dass eines Tages ein Flugzeug Flyer über Komárom abwarf, auf denen stand, dass die Gefangen freigelassen werden müssten. Der junge Jószef Kazári ist einer dieser Menschen. Er erzählt: „Sie haben also die Türen geöffnet. Dann haben sie uns gehen lassen, uns alle. Manche haben es nicht nach Hause geschafft, sondern starben dort, im Hof. Babies, winzige Kleinkinder starben auf dem Weg nach Hause… Auch ein kleines Kind meiner Mutter starb dort. Ein Säugling, noch eingewickelt. Könnte drei oder vier Monate alt gewesen sein. Das war, als der Typhus ausbrach und die Menschen, ihre Haut und ihre Kleider voller Läuse waren. Es war sehr, sehr hart, die ganze Zeit über.“

Wesentliche Grundlagen zur Erforschung des Porajmos in Ungarn haben János Barsóny und Ágnes Daróczi geschaffen. Sie haben Tausende Zeitzeug:innen und Überlebende interviewt – die meisten in diesem Artikel aufgeführten Zitate stammen aus ihren Interviews. Aus den Aussagen und anderem Quellenmaterial haben sie 560 Orte im damaligen Ungarn aufgelistet, an denen die Verfolgung stattgefunden hat. Dabei ist das nur der Anfang. Wieviele Orte der Verfolgung es tatsächlich gegeben hat, werden wir wahrscheinlich ebensowenig jemals erfahren, wie die Zahl der Ermordeten. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Vieles wurde nicht dokumentiert oder die Dokumentation ist verloren gegangen. Ein anderer Grund ist, dass nicht all Roma registriert waren. Es ist auch möglich, dass manche Roma als „Asoziale“ oder politische Häftlinge deportiert wurden und somit nicht in der Kategorie der Roma gelistet sind. Manche Massengräber sind nie ausgehoben worden. Mancherorts gab es keine Überlebenden, die hätten aussagen können. Wenn es Überlebende gab, so wurden sie nicht gefragt. Für manche war es sicher auch zu traumatisch, über das Erlebte zu sprechen. Ein wichtiger Grund ist natürlich auch, dass es zu wenig Forschung gibt, da sich nur wenige Historiker:innen des Themas annehmen.

Literatur:

János Barsony und Ágnes Daróczi (Hg.): Pharrajimos. The Fate of the Roma During the Holocaust, Budapest 2008.

Evelin Verhás, Angéla Kóczé and Anna Lujza Szász (Hg.): Roma Resistance during the Holocaust and in its Aftermath. Collection of Working Papers, Budapest 2018.

Jekatyerina Dunajeva: Roma Holocaust in Hungary: Importance and Implications of Roma Resistance; in: Anna Mirga-Kruszelnicka and Jekatyerina Dunajeva (Hg.): Re-thinking Roma Resistance throughout History: Recounting Stories of Strength and Bravery, Budapest 2020, S. 98-119.

Anna Lujza Szász: Is Survival Resistance? Experiences of Roma Women under the Holocaust, Saarbrücken 2012.