Das Erbe der Roma in der Musik ist überwältigend. Interview mit Riccardo M Sahiti
Das Erbe der Roma in der Musik ist überwältigend. Interview mit Riccardo M Sahiti
Riccardo M Sahiti ist der Gründer und Dirigent der Roma und Sinti Philharmoniker in Frankfurt am Main. Wir sprachen mit ihm über seinen Werdegang, den Einfluss von Roma auf die Weltmusik und eine entstehende Komposition für die vertriebenen Roma aus dem Kosovo.
Wie bist du zum Dirigenten geworden?
Ich bin in Jugoslawien geboren, in Kosovska Mitrovica. Dort haben Hunderte Roma gut und friedlich mit allen anderen Völkern gelebt. In 1963 gab es eine große Flutkatastrophe. Der Fluss Ibar hat die Häuser vieler Roma zerstört, so auch unser Haus. Der Staat hat uns dann in Bair untergebracht, süd-westlich von Kosovska Mitrovica. Mein Vater hat dort in einer Zigaretten-Fabrik gearbeitet. Heute sind dort leider die Unruhen. Die Stadt ist ja jetzt in Nord und Süd geteilt.
Zunächst war ich in der Musikschule in Kosovska Mitrovica, aber als ich 14 war, meinten meine Eltern, es sei besser, auf die Musikschule in Priština zu gehen. Damals hatte ich noch keine genaue Orientierung, in welche Richtung ich weiterlernen sollte. Etwa 1973 oder 74, als ich in der zweiten Klasse in Priština war, habe ich den Dirigenten Bahri Ćelja gesehen, der mich inspiriert hat. Gleichzeitig habe ich erkannt, dass ich in dieser Stadt keine Zukunft habe und nach Belgrad muss. Meine Schwester hat ein Klavier gekauft, ein Pianino Čajka. Ich habe mich vorbereitet, und nach Abschluss der Musikschule bin ich 1981 nach Belgrad gegangen. An der Fakultät für Musikkunst habe ich Dirigieren studiert und mit Diplom abgeschlossen, bei Professor Stanko Šepić. Außerdem habe ich einen Abschluss in Pädagogik absolviert, um auch Musik unterrichten zu können. Daher habe ich zwei Diplome.
Wie ist es nach deinem Studium weitergegangen? Hast du sofort eine Arbeit gefunden?
Nach dem Studium war ich in Moskau und habe bei Professor Jurij Iwanowitsch Simonow, dem Chefdirigenten des Bolschoj-Theater und heute von der Moskauer Philharmonie, ein Vertiefungs-Studium am Tschajkowskij-Konservatorium absolviert. In Belgrad wollte ich selbstverständlich einen Job finden, aber dort gab es für mich keine Möglichkeit, auch nicht in einer Musikschule. Für das Fach Dirigieren gab es 20 Bewerber. Der Direktor sagte mir: Wir kennen Ihre Qualitäten, aber Sie werden hier keinen Job finden. In der Zeit hat in unserem Land leider die Unstabilität angefangen. Und weil meine drei Schwestern in Deutschland lebten, bin ich 1992 nach Frankfurt gekommen.
Heißt das, du hast in Belgrad keinen Job gefunden, weil du aus der Roma-Community kommst?
Ja, ich denke, wahrscheinlich war das der Grund. Ich habe Pädagogik 1987 abgeschlossen und Dirigieren 1990, aber es gab trotzdem keinen Job für mich. Ich habe das nicht verstanden. Meine Kollegen haben einen Job gefunden. Aber dass ich keinen Weg gefunden haben, verstehe ich leider nicht. Natürlich ist der Weg von Menschen verschieden. Ich habe nicht verstanden, warum das so lief in meinem Lebenslauf. In Frankfurt war ich dann an der Hochschule für Musik als Gaststudent. Das hat mich unterstützt für meinen Aufenthalt. Ich habe bei Professor Jirí Stárek studiert und versucht, eine Stelle in einem Orchester in der Europäischen Union zu bekommen. Aber dann haben die Probleme mit dem Aufenthalt begonnen. Ich habe nicht verstanden, wieso man sich in Deutschland mit solchen Problemen beschäftigt. Ich meine, in welchem Jahrhundert leben wir? Mit meinen 31 Jahren habe ich nicht verstanden, wieso der Westen diskutiert, ob ich ein Visum habe oder nicht, ob ich bleiben darf oder nicht. In Jugoslawien hat mir diese Frage niemand gestellt. Wenn man lernt und arbeiten will, sollte das möglich sein. Aber dann gab es noch die zusätzlichen Störungen: Der Krieg hat angefangen und es gab diese Spannungen. Von 1992 bis 2000 habe ich an Wettbewerben teilgenommen. In Katowice in Polen, in Budapest, in Sankt Petersburg, in Trento in Italien… Aber ich hatte nicht mehr diese Energie wie nach meinem Studium, wo ich hätte einen normalen Berufsweg in einem Orchester gehen und mich hätte entwickeln können, wie alle anderen auch, die als Assistent begonnen, eine Stelle begonnen und Konzerte für die Öffentlichkeit gegeben haben. Dieser Weg war für mich noch im Nebel.
Anfang der 1990er mussten viele Roma um ihr Bleiberecht kämpfen, viele wurden abgeschoben, obwohl ja die Kriege in Jugoslawien begonnen hatten. Wie war die Situation für dich damals in Deutschland?
Ich war bei meiner Schwester und habe mich bei der Meldestelle gemeldet. Sie haben gefragt, wie lange ich bleiben wolle: einen Tag, eine Woche, einen Monat, ein Jahr oder ewig. Ich habe gesagt: ewig. Und dann bekomme ich nach zwei Wochen ein Schreiben: „Herr Sahiti, warum möchten Sie hier ewig bleiben?“ Und ich sage: Warum nicht? Ich bin hier kein Tourist. Meine Schwester arbeitet hier. Sie meinten dann, ich könne als Student hier bleiben oder arbeiten. Aber genau deswegen war ich ja gekommen. Mir wurde gesagt, ich hätte in Jugoslawien ein Visum beantragen müssen. Aber wieso? Wir konnten reisen ohne Visum. Da wurde mir erst gesagt, dass sich das 1992 geändert hat. Und ich wusste das noch nicht. Meine Schwester hat für mich gebürgt und ich habe eine Bescheinigung von Jirí Stárek bekommen.
Trotz dieser zwei Dokumente musste ich Deutschland verlassen und ein Ticket zahlen. Im Zug durch Österreich hat der Schaffner mich gewarnt, die Tür zu halten, wenn wir durch Ungarn fahren, wenn ich am Leben bleiben wolle. Ich war von 1987 bis 1990 in Ungarn, bei Musik-Seminaren in Szombathely bei Maestro Professor Peter Eötvös. Das war ein Paradies, ich hatte ein Stipendium der ungarischen Regierung, ich habe bei Musik-Seminaren für Dirigenten studiert. Was ist passiert? Wie kann sich ein Land in zwei, drei Jahren so verändern? In Belgrad bin ich in die deutsche Botschaft gegangen und nach einem Monat habe ich eine Aufenthaltsbewilligung für ein paar Monate bekommen. Das war alles eine Störung für meinen Lebenslauf. Aber da zeigt sich auch: Statt sich gegenseitig zu helfen, verkomplizieren Menschen das Leben anderer Menschen.
Es ist interessant. 2016 habe ich das Bundesverdienstkreuz von Bundespräsident Joachim Gauck bekommen. Ich wurde für meinen Beitrag zur Kultur und zur Erinnerung an die Geschichte ausgezeichnet, für die Interpretation des Requiems für Auschwitz von Roger Moreno-Rathgeb. Und ich habe mich erinnert, wie ich damals am ersten Tag, den Bogen der Meldestelle ausgefüllt habe: Wie lange wollen Sie bleiben? Einen Tag, eine Woche… Wenn ich damals einen Tag angekreuzt hätte und ich woanders wäre, es die Philharmoniker nicht gebe… Deutschland muss daraus etwas lernen: Gebt den Menschen eine Chance. Das ist alles. Das ist menschlich, das ist zivilisiert.
Heute leben viele Roma in Deutschland schwerer als ich. Viele Menschen, die nie jemandem etwas getan haben. Sie haben keine Kriege geführt. Ich hatte vielleicht Glück, weil ich in einer Zeit geboren wurde, als Frieden war. Wir brauchen Frieden für die Entwicklung der Menschen. Meine Eltern hatten Jobs, wir hatten ein Haus. Alle Menschen brauchen das. Alle brauchen die gleichen Chancen.
Seit 1992 lebst du in Frankfurt. Wie sind die Roma und Sinti Philharmoniker entstanden?
Ich war arbeitslos und ohne Zukunft. 1995 oder 96 hat Roman Kwiatkowski mit Andrzej Mirga ein großes Konzert in Katowice organisiert. Der polnische Komponist Jan Kanty Pawluśkiewicz hat das Werk der polnischen Roma-Dichterin Bronisława Wajs (Papusza) komponiert. Das Rundfunk Radio Katowice Orchester hat das Werk interpretiert und damals Weltpremiere gehabt. Es ist ein sehr schönes Werk über Roma-Kultur auf Romanes, das wir vielleicht auch einmal interpretieren. Das Konzert wurde im Fernsehen gesendet und Elizabet, meine Frau, hat das gesehen. Sie hat bei dem Sender angerufen, um zu fragen, wer das Konzert veranstaltet hat und erfahren, dass es Roman Kwiatkowski war, der in Oświęcim das Gedenken für die ermordeten Roma im KZ Auschwitz-Birkenau organisiert hat. Er hat mich dann eingeladen und gesagt, es wäre schön, wenn wir beim Papst im Vatikan ein Konzert geben. Vielleicht bekommen wir vom Vatikan eine Botschaft für die Roma und alle Katholiken: weniger Waffen, mehr Brot und Wasser. Bis heute ist das noch nicht passiert. So ist das leider. Vielleicht warten sie noch auf die Roma.
Elizabet meinte, warum gründest du nicht dein eigenes Orchester, ein Roma-Orchester? Ich sage: Elizabet, bist du verrückt? Wo werde ich Musiker finden? Aber gut, wir werden jetzt beginnen, das zu machen. Das 20. Jahrhundert ist vorbei. Vielleicht können wir jetzt, im neuen Jahrhundert beginnen. Zunächst wollte ich die Roma Philharmoniker gründen, aber dann haben wir sie Roma und Sinti Philharmoniker genannt. Es sollte ein gemeinsames Orchester der Roma-Nation sein. Mir geht es darum, dass die einzelnen Stämme sich einigen, genau wie die Musik. Wir haben auch große Unterstützung von Romani Rose und dem Zentralrat der deutschen Sinti und Roma bekommen. Auch die Sinti haben sehr viel zur Musik beigetragen. Vor allem in der Jazz-Musik haben sie viel beigetragen – nicht nur für die Roma, sondern für die musikalische Welt Europas. Die Roma haben sehr viel für die klassische Musik gegeben. Viel mehr als man denkt. Mein Leben hat sich in dieser Zeit, 1997-2001 einfach grandios verändert. Ich hatte Optimismus.
Ihr seid jetzt ein großes Orchester. Wie hast du die vielen Musiker_innen gefunden? Wo kommen sie her?
Zunächst haben wir einen Verein gegründet mit Satzung und Zweck, das musikalische Erbe zu pflegen und zu fördern und viele andere Sachen, eine Oper, eine Bibliothek, ein Chor, vergessenen Werke für die Öffentlichkeit wieder Leben zu geben… Der Verein wurde am 21. Mai 2001 gegründet. Letztes Jahr hatten wir schon 20jähriges Jubiläum. Dann habe ich angefangen. In Darmstadt gab es einen Kontrabassisten, Radovan Krstić, ein diplomierter Musiker, auch ein Rom aus Jugoslawien. Dann Ljubomir Aleksandrović, ein Geiger, und dann bin ich István Kuruc begegnet, einem Roma-Musiker, der an der Budapester Akademie Geige studiert hat und aus Subotica ist. Er hat gesagt, ich kenne Marius Banica, er ist aus Rumänien und spielt in Bad Wildungen. Banica hat Julian Dedu, Konzertmeister und Geiger im Eisenacher Staatstheater, empfohlen. So hat sich nach und nach die Gruppe der Streicher zusammengefunden. Jeder kannte immer noch jemanden, der dazu kam. Mit ca. 25 Streichern haben wir in Dr. Hochs Konservatorium am 3. November 2002 unser Gründungskonzert gegeben. Der Dezernent Dr. Magen hat gesprochen, Romani Rose, Micha Brumlik, der gerade gefordert hat, die Bekämpfung von Antisemitismus und Antiziganismus gleichermaßen als Staatsziele zu behandeln. Brumlik war damals Direktor des Fritz-Bauer-Instituts. Roby Lakatos, ein großer Roma-Geiger aus Ungarn, und sein Ensemble war dabei. Der Roma-Schauspieler Nedjo Osman hat das Konzert mit einer Rede auf Romanes eröffnet. Das Konzert war ausverkauft. Es hat vier statt zwei Stunden gedauert und es gab ein großes Echo in der Presse. Es war das erste Mal in der Geschichte, dass es ein professionelles Streich-Orchester von Roma in der Form gab. Und so wurde es geboren.
Euer Anliegen ist es ja nicht nur, musikalische Werke zu interpretieren, sondern eure Arbeit geht weit darüber hinaus.
Wir wollen vermitteln, wie groß das Erbe von Roma in der Musik ist, nicht nur in der traditionellen Roma-Musik aus den Ländern, wo Roma leben wie Rumänien, Ungarn, Finnland, Tschechien, Slowakei, Jugoslawien, sondern in der europäischen Musik insgesamt. Joseph Haydn war in seinen Symphonien und Quartetten inspiriert, Johann Sebastian Bach mit seiner Roma-Tonleiter in einigen Werken, ebenso Beethoven in seinen Symphonien, in seinen Klavierkonzerten und Violinkonzerten. Beethoven war János Bihari begegnet. Der Roma-Komponist und Geiger Bihari inspirierte ebenso Johannes Brahms in seinen Violin-Konzerten und ungarischen Tänzen, dann Franz Liszt in seinen Rhapsodien, Schubert in seiner 9. Symphonie, Mozart in seinen Violin-Konzerten und die russischen Komponisten Rachmaninow und Tschajkowskij. Igor Strawinskij hat in Paris Roma in der Kneipe spielen gehört und wurde von ihrem Können inspiriert. Auch die französischen Komponisten Debussy und Ravel wurden von Roma-Musik inspiriert.
Dank Roma sind Musikformen entstanden, Variationen, rhythmische Figuren, melodischer Reichtum oder auch die Z*-Tonleiter. In Romanes gibt es dieses Z*-Wort ja nicht. Dieses Wort ist Phantasie, es ist immer ein Wort der anderen. Man sollte es Roma-Tonleiter nennen. Johann Strauss hat den Z-Baron geschrieben, das Wort können wir ändern, die Musik nicht. Bei Übersetzungen zum Beispiel einer italienischer Oper in die deutsche Sprache muss man das nicht mit Z. übersetzen, sondern man kann Roma sagen. Ich habe eine große Dankbarkeit, dass diese großen Komponisten die Roma erwähnt haben. Sie sind ein Beweis dafür, dass Roma in dieser Zeit gelebt und gewirkt haben. Bei Dialogen wie im Z-Baron können die Schauspieler das Wort ändern. Das ändert die Musik nicht. Natürlich muss man es nicht übertreiben – manchmal reden die Menschen lieber über Saucen und Schnitzel, statt über gleiche Rechte und Chancen.
Die europäische Musik ist so stark von Roma-Musik beeinflusst, und das muss anerkannt werden. Professor Peter Ackermann von der Frankfurter Musikhochschule hatte dazu Musikwissenschaftler_innen aus Europa eingeladen, da das bekannter werden muss.
Die Roma Philharmoniker spielen die Werke dieser großen Musiker wie Rachmaninow. Er hat die 1. Symphonie komponiert, weil er in eine Frau verliebt war, eine Romni. Diese Frau war in der Mahalla, da hat er gesehen, wie die Roma leben, wie sie singen, welchen Reichtum sie in der Musik haben. Diese Qualität hat er als Komponist benutzt und bearbeitet und die 1. Symphonie der Welt gegeben – aus der Musik von Roma und, selbstverständlich, der russischen Musik. Oder die Oper Aleko. Ein General verlässt die Armee, weil er sagt, warum muss ich schießen, wenn ich mein Leben mit einer Frau verbringen kann. Das ist normal so. Warum beschäftigen sich Menschen mit Krieg, heute. Statt Krankenhäuser zu bauen und Chancengleichheit zu schaffen, möchten sie schießen oder Waffen verkaufen.
Auch Interpret_innen: Anna Netrebko ist weltberühmt. Sie stammt väterlicherseits von Roma ab. Aber wir haben auch Mihaela Ursuleasa, eine talentierte rumänische Roma-Pianistin. Leider ist sie sehr jung verstorben. Wir hatten die Ehre, mit ihr 2011 zum 200. Geburtstag von Franz Liszt beim Beethovenfest in Bonn aufzutreten. Bis 2009 bestanden die Roma und Sinti Philharmoniker als Streicher. Zum 200. Geburtstag von Franz Liszt sind wir zum ersten Mal als wirkliche Philharmoniker aufgetreten, mit etwa 60 Musiker_innen, in der Geburtsstadt von Beethoven.
Mit der Komposition Requiem für Auschwitz verbindet ihr Musik und das Gedenken an die schlimmste Verfolgung in der Geschichte der Roma, den Porajmos. Wie ist das Requiem entstanden?
Roger Moreno hat das Requiem für Auschwitz komponiert. 2009 kam er in die Hochschule. Professor Jirí Stárek hat das Werk gesehen und gesagt, das sei ein wunderbares Werk. Als Roger Moreno in Auschwitz-Birkenau war, dieses Leid, diese Vernichtung, die Asche… Er wollte ein Werk komponieren für diese Menschen, für ihre ewige Ruhe. Und für die Roma. Denn in dieser Zeit hat niemand die Roma erwähnt, obwohl sie so viele Menschen verloren haben. Bei diesem Werk haben wir mit einer großen, einer europäischen Dimension angefangen. Die Menschen zusammenzubringen, eine musikalische Bühne, wo sie sich treffen und dieses Werk erleben, und zu sehen, wie schrecklich es ist, wenn ein Krieg oder wenn unschuldige Menschen ihr Leben durch Rassenwahn verliert. Damit der Mensch in Zukunft nie wieder so etwas macht. Dieses Werk ist eine Botschaft an alle Völker, um ihnen zu sagen, wie wichtig Frieden und unser gemeinsames Leben als Menschen ist.
Mit diesem Werk haben wir eine Reise durch Europa gemacht. In Deutschland, Niederlande, Ungarn, in Prag, in der Frauenkirche, im Berliner Dom, in der Berliner Philharmonie. Überall wo wir waren, sind wir mit den Leuten, mit jungen Menschen, zusammengekommen. Die Leute lernen Roma durch die Musik kennen. Das ist die beste Bildung, der beste Dialog. Die Musik ist der Schlüssel, um uns zu verbinden und in den Dialog zu kommen.
Dieses Jahr wollen wir nach Israel. Vielleicht werden wir erleben, dass die Roma mit dem Requiem für Auschwitz nach Jerusalem gehen und nach Tel Aviv. Mit einem israelischen Opern-Chor, mit Solisten und Organisten interpretieren wir, was im Zweiten Weltkrieg passiert ist und wie wichtig es ist, dass die Menschen heute friedlich miteinander leben. Wir haben eine Vision mit diesen Konzerten als Flagge, als Symbol, dass uns Kultur mehr verbindet als uns Hass oder Rache trennt. Nur weil uns die Kosovo-Albaner vertrieben haben, werden wir nicht die Kosovo-Albaner vertreiben. Das würden wir nie machen. Wir brauchen keine Rache. Denn sie trifft unschuldige Menschen. Wir möchten Versöhnung schaffen.
In Planung ist auch, das Requiem für Auschwitz im Vatikan zu interpretieren, bei Papst Franziskus.
Die serbische Regierung möchte, dass wir das Requiem für Auschwitz in Belgrad aufführen. Das soll zusammen mit dem Staatstheater Belgrad stattfinden und im Rundfunk übertragen werden. Der Termin musste schon mehrmals verschoben werden, zuerst sollte die Aufführung am 27. Januar stattfinden, dann am 9. Mai… Es soll nicht nur ein Konzert sein, sondern eine Begegnung der Kulturen, Jugendliche sollen die Roma-Kultur kennenlernen. Ein Thema muss auch sein, dass wir Roma, als jugoslawische Staatsangehörige, im und nach dem Kosovokrieg nicht geschützt wurden. Wir hatten das Glück, in einem friedlichen Land aufzuwachsen, und die jungen Menschen jetzt brauchen auch Chancen.
Der Kosovokrieg war die größte Katastrophe für Roma seit dem Zweiten Weltkrieg. Deine Familie gehört zu denjenigen, die vertrieben wurden und ihren Besitz verloren haben…
Meine Eltern teilten das Schicksal der Roma aus Kosovska Mitrovica, die von bewaffneten militärischen Kräften unter Todesandrohung aus ihrer Heimat entwurzelt und vertrieben wurden. Dabei verloren sie ihr Haus sowie sämtliche Besitztümer darin. Es ist von großer Bedeutung, die genauen Verantwortlichkeiten für diese Geschehnisse, durch die rund 150.000 Roma entrechtet und vertrieben wurden, detailliert aufzuklären, zu benennen und unter öffentlicher Würdigung aufs schärfste zu verurteilen – vor allem angesichts der Tatsache, dass dieses Unrecht zu Friedenszeiten geschehen konnte. Es bedarf einer genauen Analyse, das Geflecht der damaligen Verantwortlichkeiten im Kreise dort vor Ort befindlicher französischer Soldaten und der KFOR-Kräfte im Nachgang klarzustellen. Ich habe dazu mal General Reinhardt eine Frage gestellt. Reinhardt war Kommandeur der KFOR. Er sagte, er habe erst im September 1999 das Kommando übernommen. Gut, aber wie konnten Sie dann den späteren Premierminister, diesen Verbrecher, da lassen. Wieso haben Sie nicht alle Täter verhaftet? Wieso haben Sie sie laufen lassen?
Das albanische Volk unter der UÇK hat in Anwesenheit der Nato-Soldaten, der KFOR-Soldaten, die Menschen angegriffen. Am helllichten Tag haben sie vor den Augen von Frauen, Kindern, älteren Menschen alles genommen, was die Menschen mit harter Arbeit aufgebaut haben, um am Ende die Häuser zu verbrennen und die Menschen zu vertreiben. Man muss prüfen, wer diese Soldaten waren, diese Verbrecher in Uniform, was sie gemacht haben. Das ist gegen die menschlichen Regeln. Sie haben nach dem Krieg unschuldige Menschen angegriffen, die niemandem gegenüber gewalttätig waren. Wenn es einmal ein Gericht gibt, muss herausgefunden werden, wer die Erlaubnis dazu gegeben hat, wer diese Menschen ohne Emotionen waren.
Die Vertreibung der Roma aus dem Kosovo ist in der Gesellschaft völlig unbekannt. Du hattest die Idee, nach dem Vorbild des Requiem für Auschwitz, eine Komposition zu schaffen, die den Vertriebenen aus dem Kosovo gewidmet ist.
Ja, so ist es. Ich habe mit Roger Moreno gesprochen. Auf Basis dessen, was die Kosovo Roma Rights Coalition* ausarbeitet und auf Grundlage meiner Geschichte wird Roger ein musikalisches Werk komponieren. Das soll dann zum 13. Juni 2024, zur 25jährigen Erinnerung an die Vertreibung, uraufgeführt werden. In London, Belgrad, Brüssel oder New York wollen wir eine gemeinsame Gedenkveranstaltung aller Roma organisieren, die mehrere Tage dauern kann, mit Symposium, historischen Vorträgen, Dokumentarfilmen, Treffen und am Ende, am 13. Juni, soll dieses Werk öffentlich uraufgeführt werden. Die Botschaft des Werkes ist Versöhnung. Aber die unschuldigen Menschen müssen zurückbekommen, was sie verloren haben, eine Entschädigung bekommen und die schuldigen Menschen müssen die Verantwortung übernehmen. Die neuen Generationen müssen einfach friedlich miteinander leben können, denn sonst wird es schlimmer und schlimmer. So ein Werk muss Roger Moreno komponieren. Für die Finanzierung dieser großen internationalen Veranstaltung und die Uraufführung der Komposition braucht es einen Fonds. Alle Organisationen müssen dazu beitragen, denn die Vertreibung war, wie Grattan Puxon sagt, ein Angriff auf die Roma-Nation. Eine solche Aggression darf nie wieder gegen Roma, oder gegen Menschen überhaupt, auf europäischem Boden stattfinden.
* Die Kosovo Roma Rights Coalition ist eine internationale Gruppe von Roma-Organisationen für die Anerkennung des Unrechts gegen Roma nach dem Kosovokrieg: Nach dem Krieg begannen am 13. Juni 1999 die systematischen ethnischen Säuberungen unter den Augen der im Kosovo stationierten internationalen Truppen. Zur Kosovo Roma Rights Coalition gehören sowohl das Roma Center als auch die Roma und Sinti Philharmoniker unter der Leitung von Riccardo M Sahiti.
Weitere Infos und Aktuelles über die Roma und Sinti Philharmoniker: www.rsphil.com
Das Requiem für Auschwitz: https://www.youtube.com/watch?v=DDn0L6ZXmkk
Zum 13. Juni-Gedenktag: https://ran.eu.com/3-juni-zum-gedenktag-vertreibung-der-roma-aus-dem-kosovo/