Kinder in der Groner Landstraße. Veranstaltung & Runder Tisch
Am 11. Dezember haben das Roma Center, die Basisdemokratische Linke und der Göttinger Anwalt für Sozialrecht, Sven Adam, eine sehr gut besuchte Podiumsdiskussion zur Situation der Kinder in der Groner Landstraße 9 durchgeführt. Unser gemeinsames Anliegen ist es, die Lage der Bewohner:innen zu verbessern und gemeinsame Wege dafür zu finden. Wichtigstes Ergebnis der Veranstaltung ist die Etablierung eines Runden Tisches aus der Zivilgesellschaft heraus.
An der Diskussion teilgenommen hatten neben Vertreter:innen vom Roma Center, der Basisdemokratischen Linken sowie Sven Adam auch Prof.in Dr. Elizabeta Jonuz und Dr. Martin Hulpke-Wette.
Der Wohnkomplex Groner Landstraße 9 bis 9b (GL9) macht regelmäßig auch überregional Schlagzeilen. Hier leben vor allem Menschen in hochgradig prekarisierten Lebenslagen, darunter viele Roma aus Rumänien und Ex-Jugoslawien. Obwohl die Wohnsituation extrem schlecht ist, sind die Miete, auch für Göttinger Verhältnisse, sehr hoch.
Bundesweit in die Schlagzeilen geriet die GL9 zu Beginn der Corona-Pandemie als zweiter Göttinger „Hot Spot“, nachdem bereits die Bewohner:innen des Idunazentrums beschuldigt worden waren, das Corona-Virus zu verbreiten. Nachdem zwei Bewohnerinnen der GL9 positiv auf das Virus getestet worden waren, wurde der Hochhauskomplex innerhalb weniger Stunden komplett abgeriegelt und polizeilich bewacht. Niemand durfte mehr das Gebäude verlassen.
Sven Adam hatte im Auftrag von Bewohner:innen gegen die Abriegelung geklagt. Das Verwaltungsgericht Göttingen hat tatsächlich Ende 2023 festgestellt, dass die Stadt Göttingen 2020 rechtswidrig gehandelt hat. Adam hat daraufhin im Auftrag von 223 Bewohner:innen auf Schadenersatz geklagt. Die Klage musste leider zurückgezogen werden, nachdem zwei Instanzen die Anträge auf Prozesskostenhilfe abgelehnt hatten. Dadurch wäre das finanzielle Risiko für die Bewohner:innen, die Kanzlei und solidarische Menschen zu groß gewesen.
Dr. Hulpke-Wette ist Göttinger Kinderarzt und behandelt viele Kinder aus der GL9, obwohl seine Praxis relativ weit weg ist. Als er von der Abriegelung erfuhrt, wollte er von der Stadt erfahren, ob an die eingesperrten Kinder und ihre medizinische Versorgung gedacht sei. Dem war nicht so. Deswegen ist er mit einer Dolmetscherin reingegangen, um die Kinder zu versorgen. Er berichtete zum Beispiel von einer dreiköpfigen Familie mit einem einjährigen Kind, das einen Harnwegsinfekt hatte. Der Arzt bezeichnete diese Erkrankung bei so einem jungen Kind als lebensbedrohlich. Er kritisierte darüber hinaus die Unterbringung von Menschen, die nicht mit Corona infiziert seien, mit solchen, die infiziert seien. Im Einzelfall könne das für ein solches Kind tödlich enden. Er hatte dringend angeregt, die nicht-infizierten Menschen anderweitig unterzubringen. Das schien von der Stadt jedoch nicht erwünscht.
Prof.in Dr. Elizabeta Jonuz ist Soziologin an der Hochschule Hannover und lehrt dort soziale Arbeit. Sie war Mitglied der Unabhängigen Kommission Antiziganismus (UKA), die erstmals systematisch Rassismus gegen Roma und Sinti in Deutschland durch Studien untersuchen ließ. Sie ordnete den Umgang mit Roma und Sinti im deutschsprachigen Bereich wissenschaftlich ein, darunter die lange Geschichte des Kindesentzugs, die bis heute fortbesteht, wie auch Kenan Emini vom Roma Center später bestätigte und was einer der Gründe dafür ist, warum es wenig Vertrauen seitens der Community zu Institutionen der Dominanzbevölkerung und ihren Sozialarbeiter:innen gibt. Jonuz hat die „Tradition“ der Sonderbeschulung von Roma-Kindern thematisiert. Auch diese besteht bis heute fort. Die UKA-Studie von Neuburger und Hinrichs hat die Zunahme rassistischer Diskurse im Zusammenhang mit der EU-Südosterweiterung herausgearbeitet. In der Studie ging es zwar um Hannover, die antiziganistischen Wirkmechanismen sind jedoch bundesweit zu finden, so auch in Göttingen. Als politischen Skandal bezeichnete Jonuz den kompletten Unwillen seitens der damaligen Bundesregierung, institutionellen Rassismus auch nur zu erkennen. Sie zitierte den Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus (!) 2017: „In Deutschland gibt es keine staatlich organisierte, systematische Benachteiligung von Bevölkerungsgruppen […]. Die in Deutschland bestehenden staatlichen Institutionen sind durch rechtsstaatliche Strukturen geprägt und unterliegen den Normen des demokratischen Verfassungsstaates.“ Im Folgenden wird dann lediglich zugegeben, dass es durch Einzelpersonen in staatlichen Institutionen zu Diskriminierung kommen könne. Struktureller und institutioneller Rassismus und dessen Funktionsweisen werden mit dem Verweis auf die Verfassung negiert und damit die Augen vor der Realität und der staatlichen Verantwortung für Gleichberechtigung verschlossen.
Der Umgang mit den Menschen in der Groner Landstraße während der Corona-Pandemie aber auch im Kontext der „Begehung“ und Razzia 2024 ist eben gerade ein gutes Beispiel für institutionellen Rassismus und Klassismus. Menschen wurde ihre Freiheit entzogen, sie wurden, unabhängig von ihrem persönlichen Verhalten, unter Generalverdacht gestellt und kriminalisiert.
Annso von der Basisdemokratischen Linken hat die Situation in der GL9 in den wohnungspolitischen Kontext eingeordnet. Die Profitinteressen von Investoren stehen hier im Vordergrund. Die Haupteigentümerin des Gebäudekomplexes ist insolvent und kommt ihren Verpflichtungen als Vermieterin nicht nach. Die Bewohner:innen und, im Falle von Leistungsbezieher:innen, die Stadt zahlen jedoch horrende Mieten. Gleichzeitig finden die Bewohner:innen kaum anderen Wohnraum wegen des Stigmas der Adresse und ggf. auch aus weiteren Diskriminierungsgründen. Die Stadt muss das Interesse der Menschen, die hier leben, und ein gutes Wohnen für Alle in den Fokus rücken.
Kenan Emini vom Roma Center sprach über die prekäre Wohnsituation von Roma in Göttingen. Gerade sie sind es, die über Jahre und Jahrzehnte in den prekarisierten Orten untergebracht wurden, entweder weil sie als Geflüchtete nicht frei wählen konnten, wo sie wohnen oder weil sie wegen des Antiziganismus auf dem Wohnungsmarkt als keine anderen Wohnungen bekommen. Daher leben auch in Göttingen weit überproportional Roma an den prekären Wohnorten, darunter die GL9 und noch viel länger das Idunazentrum. Die mit dem Leben an diesem Wohnorten verbundenen Probleme, strukturelle und institutionelle Rassismen und Stigmatisierungen reproduzieren sich immer weiter. Das Roma Center versucht schon seit langer Zeit, Mediator:innen aus der Community einzusetzen, jedoch will niemand diese finanzieren.
Das Publikum war sehr am Thema interessiert und brachte viele Fragen, Anregungen und Kritik ein. Im neuen Jahr starten die Organisator:innen der Veranstaltung gemeinsam mit interessierten Teilnehmenden der Veranstaltung einen Runden Tisch, um gemeinsam Verbesserung für die Kinder in der Groner Landstraße 9 umzusetzen.
Lies auch unsere Stellungnahme zu den rassistischen Diskursen zur Groner Landstraße in Göttingen: https://ran.eu.com/rumanische-roma-kinder-in-gottingen-eine-einschatzung-und-hintergrunde-der-roma-aus-rumanien/