6. Gesellschaftliches Leben, Sitten und Gebräuche

6. Gesellschaftliches Leben, Sitten und Gebräuche

Auch nach dem Verlassen Indiens sind bei den Roma (Sinti, Kale usw.) Teile des Kastensystems erhalten geblieben. Das Kastensystem teilt die Gesellschaft in eine große Zahl von Abstammungsgruppen, die sich voneinander unterscheiden und zugleich durch drei Charakteristika miteinander verbunden sind: durch Mitgift bei der Eheschließung und Kontaktknüpfung, durch die Arbeitsteilung, in der jede Gruppe gemäß Tradition einen Beruf ausübt, von der die einzelnen Gruppenmitglieder nur innerhalb gewisser Grenzen abweichen können, schließlich durch die Hierarchie, die die Gruppen in Über- und Untergeordnete einstuft. Alle Roma verbindet der Umstand, daß sie ohne staatliche Organisationsform leben. Das allgemein Verbindende zwischen ihnen allen findet sich bereits im Begriff Romanipe. Diese Bezeichnung umschließt wie ein Ring alle Stämme und Untergruppen dieses Volkes. Die Gesellschaftsstruktur der Roma-Gemeinschaft beruht auf dem Verwandtschaftssystem, in dem die Großfamilie den wichtigsten Platz einnimmt (Emile Durkheim bezeichnet die Roma-Gemeinschaft als Typ einer “segmentären Gesellschaft”, die auf der Blutsverwandtschaft beruht). Die Basis der Gemeinschaft bildet die Satra (eigentlich “Roma-Zelte”), die in der Regel eine Gemeinschaft von drei Generationen umfaßt. Mehrere Satra bilden ein Niamo (Geschlecht), mehrer Geschlechter eine sogenannte Vica. Die Vica entsteht durch Zuheiraten männlicher bzw. weiblicher Familienmitglieder (Bei den Kale spielt hierbei die Patenschaft eine besondere Rolle). Die Größe einer Vica ist variabel. Sie kann ein Dutzend bis mehrere hundert Zelte umfassen. Ihr steht ein Ältester vor, der auf eine bestimmte Zeit oder lebenslang gewählt wird, in Abhängigkeit von seinem Ansehen, seiner Autorität und seiner Intelligenz. Der Älteste trägt der Titel Baro Rom, Sero Rom, Grofo, Kraljo usw. (In einzelnen Stämmen hat auch eine Frau, Phuri daj, die Leitungsfunktion inne. Die Ältestenrolle verdankt sie dem Glauben, daß Frauen übernatürliche Kräfte besitzen). Der “Älteste” führt den Vorsitz des Altenrates, mit dem gemeinsam oder auch allein alle wichtigen, den Stamm betreffenden Beschlüsse gefaßt werden. Mit dem Kris, einer Art Gericht, klären Roma auch heute noch Streitigkeiten innerhalb einer Gruppe. Die “Richter” werden dafür von Fall zu Fall von den Kontrahenten einvernehmlich bestimmt. In der Regel sind das drei bis fünf Personen, die sich in der Vergangenheit durch kluge Urteile einen Namen gemacht haben. Auch Ehen werden durch das Kris bestätigt. Der Älteste unterscheidet sich von den anderen durch seine äußeren Merkmale und Symbole. Er darf einen Bart tragen, hat einen besonders geschmückten Anzug und ein silbernes Zepter (Symbol des Vorsitzenden bei einer Roma-Gruppe in Rumänien ist ein silberner Becher, Rupuno tahtaj). In einigen Ländern, z.B. unter dem türkischen Kaiserreich, wurden die Roma-Ältesten seitens der amtlichen Obrigkeit ernannt. Damals wurden verschiedene Stände eingeführt, von denen einige bis heute erhalten sind, wie z.B. Buljubasa, Fürst. Roma und Sinti leben in einer doppelten Realität. Genauer, ein Zusammenspiel aus einer aus Indien mitgebrachten und immer noch präsenten Wirklichkeitswahrnehmung und der in den jeweils anderen Ländern herrschenden Wahrnehmung der Realität, die von ihnen ebenfalls angenommen wurde.

Die Stellung der Frau: Die Heiratssitten dienen traditionellerweise dazu, die patriarchalische Gesellschaftsform zu stützen. Die Frau mußte, wenn möglich noch vor Beginn der Pubertät, verheiratet werden, denn ihre Jungfräulichkeit sollte die Reinheit der Familie dokumentieren. Mit der Heirat ging die Verantwortung für die Frau von der Familie des Brautvaters auf die Familie ihres Mannes über. Die Heirat ist nicht allein Angelegenheit beider Ehepartner, sondern der beiden Familien, die mit all der ihnen zu Gebote stehenden Macht dafür sorgen sollen, daß die Ehe erfolgreich ist und nicht geschieden wird. Dementsprechend ist die Scheidungsrate noch gering; die Kinder wachsen im Schoß der Familie auf. Reinheit und Treue der Frau werden hochgehalten. Die Frauen – wie insbesondere bei den Kalderasch und Lovara – sind den Männern untergeordnet, aber sie werden dabei nicht ausgebeutet und erniedrigt. In jüngster Zeit entwickelt sich auch bei den Roma eine “Frauenbewegung”. Die populärste Frauenorganisation existiert zur Zeit in Spanien, also vor allem dort, wo Ausbildung und Emanzipation der Frauen unter den Roma am weitesten verbreitet sind.

Wirtschaftsleben: In den ältesten historischen Quellen werden die Roma als Metallarbeiter und Musiker erwähnt. Dies Beschäftigungen treffen auf alle Stämme zu. In Dokumenten wird erwähnt, daß sie Säbel, Schwerte, Messer, Äxte, verschiedene Werkzeuge für den Gebrauch im Haushalt und der Landwirtschaft herstellten. Auch die Holzbearbeitung ist eine häufige Tätigkeit der Roma (in einzelnen Ländern formierten sich sogar speziellere Gruppen, wie Löffelmacher, Spindeldreher, Trogmacher, Korbflechter usw.). Eine der häufigsten Beschäftigungen ist die Aufzucht und der Handel mit Pferden (dies ist vor allem eine Beschäftigung des Stammes Lovari). Darüber hinaus gibt es Tierdresseure (Bären, Affen usw.). Aber auch Bau- und Textilarbeiten, bis hin zu Arbeiten als Lastenträger, Schuhputzer und Verkäufer sind verbreitet. Dir traditionellen Berufe und die romanes-Bezeichnungen der verschiedenen Gruppen sind Belege, durch deren Analyse man eine gewisse Vorstellung über ihre ehemalige Kastenzugehörigkeit in Indien erhalten kann. Es scheint, daß sie ehemals der Kshatrya-Kaste angehörten. Viele dieser traditionellen Tätigkeiten sind im 20. Jahrhundert veraltet, so daß die Roma begannen, sich als Industriearbeiter zu verdingen, oder in der Landwirtschaft zu arbeiten.

Sitten und Bräuche: Roma bezeichnen ihre Sitten und Gebräuche mit dem Wort Puranimata (dieser Ausdruck ist von dem Roma-Wort purano, alt, abgeleitet). Gemeinsam mit den religiösen erstrecken sich die sozialen Bräuche von der Geburt bis zum Tod. Unter den sozialen Bräuchen nehmen die Geburt, die Hochzeit, Todes- und Beerdigungsbräuche einen zentralen Platz ein. Wichtig ist auch Pativ, eine Feierlichkeit, die aus Anlaß eines familiären oder gesellschaftlichen Ereignisses oder zu Ehren eines Gastes veranstaltet wird. Zu den religiösen Bräuchen gehört es zum Beispiel, als Zeichen der Dankbarkeit gegenüber Gott Kerzen anzuzünden, der Kirche Geld zu spenden sowie einzelnen in Not zu helfen (In Indien galt der Grundsatz: “Ich Opfere, also bin ich!”; ein Sinnspruch der Roma lautet: “Wer nicht imstande ist, genug zu verdienen, um Gott Weihrauch zu kaufen, ist des Lebens nicht würdig.”).

Im Zentrum der Kultur der Roma stehen der Mensch, menschliche Werte, insbesondere Glück, Liebe und Freiheit. Explizit vertritt diese Kultur die Überzeugung, daß der Sinn menschlicher Existenz nicht im Haben, sondern im Sein besteht.

In Übereinstimmung mit ihrer Auffassung von Recht und Moral unterscheiden die Roma gute von schlechten Verhaltensweisen. Unter die schlechten fallen Verstöße gegen Tradition und moralische Normen (Ladzavne buca, schändliche Taten). Mißachtung der religiösen Grundsätze und Vorschriften (Bezehale buca, Taten, die zur Versündigung führen) und schließlich Verstöße gegen Normen familiären und sozialen Lebens (Dosale buca, Taten, aus denen Schuld hervorgeht). Eine Person, die eine “schändliche Handlung” begeht, wird als “charakterloser Typ” betrachtet, und die Mitglieder der Gemeinschaft verweigern ihm die Achtung. Eine Person, die die religiösen Normen verletzt, d.h. eine “sündige Seele” hat, hat sich vor Gott und ihrem eigenen Gewissen zu verantworten. Aber weil ein “sündiges Wesen” zugleich ein “unreines Wesen” ist, tritt man mit ihm als potentiellem Auslöser von “Unglück” nur ungern in Kontakt und lädt ihn nicht zu gemeinsamen Feierlichkeiten ein. Personen, welche die sozialen Normen, die Normen des Gewohnheitsrechts verletzen, führt man vor das Stammesgericht, Kris.

Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden demnach von einer großen Anzahl Sitten und Regeln normiert. Dieses System von Sitten und Bräuchen ist ein Spiegelbild des spezifischen Glaubens an die göttliche und natürliche Ordnung.

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